Blind Kunst sehen – ein Selbsttest im Ägyptischen Museum München | #KunstBlick

„Du darfst dich jetzt bei mir einhaken und ganz vorsichtig mit mir mitkommen. Wir gehen jetzt runter ins Museum.“ Dunkelheit umgibt mich. Mit verbundenen Augen und auf wackeligen Beinen lasse ich mich von Roxane Bicker, Ägyptologin und Museumspädagogin am Ägyptischen Museum München, führen. Wie ist das, blind Kunst zu sehen? Als Sehende erlebe ich eine Führung für Sehbehinderte und Blinde, zwar unter gleichen Bedingungen und doch ganz anders. Ein Selbsttest.

Detail Raumansicht "Ägypten (er)fassen" im Archäologischen Museum München mit aufgestelltem Flachrelief.

Wie geht das, als Sehende blind Kunst sehen im Ägyptischen Museum München? Ein Selbsttest für eine Reportage #workinprogress

Stimmengewirr. Klappernde Absätze. Geräusche irritieren mich plötzlich. Blind nehme ich den mich umgebenden Raum intensiver wahr als sehend. Unbeholfen taste ich mich voran. Der einzige Halt, die eingehakte Hand meiner Führerin. Eng ist der Körperkontakt zu ihr. Gefühlt zu eng und zugleich beruhigend. „Man braucht da immer Körperkontakt. Das ist für uns normal Sehende natürlich etwas seltsam“, so Roxane Bicker. Trotzdem kommen irrationale Gedanken auf: Laufe ich im nächsten Moment gegen etwas, oder stolpere ich Stufen runter?

Porträtaufnahme von Roxane Bicker, Museumspädagogin am Archäologischen Museum München. Sie steht vor einem Relief im Raum "Ägypten (er)fassen".

Die Museumspädagogin Roxane Bicker führt mich durch den Raum „Ägypten (er)fassen“.

Die Ägyptologin geleitet mich zum Fahrstuhl. „Du bist total unsicher, du hast keinerlei Orientierung und Raum. Das ist bei den blinden Personen natürlich anders. Sie verlassen sich auf mich. Darauf, dass ich dafür sorge, dass sie nirgendwo gegenlaufen.“ Ich soll mich fallen lassen, Vertrauen aufbauen. Seltsam, dass sie mir das sagen muss, aber es funktioniert. Zunehmend mehr lasse ich mich auf Raum, Kunst und Stimme der Museumspädagogin ein. Irgendwann ist meine Unsicherheit verflogen.

Ägypten (er)fassen

Im Untergeschoss des Museums angelangt, weist Roxane Bicker auf die erhabene, lineare Führungslinie am Boden. Ich erspüre sie unter meinen Füßen. „Mit dem Langstock ertasten sich die Blinden ihren Weg durchs Museum.“ Pfeile in der Linie geben ihnen die Richtung an. Sehbehinderte können das Museum auf vielfältige Art erkunden: individuell mit und ohne Multimedia-Guide durch die Ausstellung, in einer speziellen Führung oder individuell im Raum „Ägypten (er)fassen“ – ein Raum zum Fühlen und (Er-)Fassen von Kunst. Kommen sie ohne Assistenz, begleitet sie auf Wunsch Museumspersonal dorthin und bleibt bei ihnen. „Wir lassen sie da nicht allein, sondern unterstützen sie“. Das Personal ist auf diese Aufgabe vorbereitet.

Roxane Bicker führt mich in „Ägypten (er)fassen“. Der Raum ist Teil des normalen Museumsrundgangs. Jeder kommt hierher. „Wir nutzen diesen Raum nicht nur für blinde Leute, sondern alle sind froh, wenn sie endlich mal etwas anfassen dürfen. Es ist uns sehr wichtig, dass wir einen großen Mehrwert für alle Besucher bieten.“

Tanja Praske steht im Ägyptischen Museum München vor einem Flachrelief, eine Replik, und ertastet es.

Ich ertaste mir in „Ägypten (er)fassen“ ein Flachrelief.

Ist Stein gleich Stein?

Drei Tische warten auf mich. Auf dem mittleren erfühle ich verschieden große Gesteine. Sie sind angeschnitten. Mal ist die Fläche glatt, mal rau, kalt oder warm. Gerade ertaste ich einen glatten, kalten Stein. Noch ist er bedeutungslos für mich, bis die Ägyptologin mich aufklärt: „Das ist Calcit-Alabaster. Du merkst schon gleich, der ist viel viel glatter und viel polierter. Er hat eine ganz gebänderte Struktur. Er ist so weiß- und cremefarben. Den kann man, wenn man ihn ganz ganz dünn schleift, fast durchscheinend machen. Man hat ihn auch für Luxusgefäße verwendet.“ – ein sehr schwieriger Herstellungsprozess. Sofort sehe ich ein Calcit-Alabaster-Gefäß vor mir. Bin überrascht. Fühlen und hören erwecken in mir Bilder. „Das ist etwas, was uns Sehenden abgeht. Dass wir uns mit der Struktur der Steine, der Figuren auseinandersetzen, dass sie sich ganz anders anfühlen.“

Tisch mit 16 Gesteinen im Ägyptischen Museum München. Diese dürfen berührt und ertastet werden.

16 Gesteine dürfen wir ertasten, ihre Oberflächenstrukturen erfühlen.

Tatsächlich lerne ich über das Ertasten anders zu sehen. Es ist bewusster und unmittelbarer. Das setzt die Museumspädagogin gerne bei Kindern ein. Sie verbindet ihnen die Augen und lässt sie anders schauen. „Wenn die Augen verbunden sind, sind die anderen Sinne viel schärfer!“

Das war’s für den 1. Teil. Im 2. Teil verliere ich meine Unsicherheit. Du erfährst wie viele Statuentypen es im alten Ägypten gab, wie ihr Herstellungsprozess war und was ich alles im Blindenkoffer vorfand – Repliken und Originale!

==>Weiter geht es auf: „Blind Kunst „sehen“ – Selbsttest im Ägyptischen Museum München – Teil 2„, auf „Freiraum“, ein Online-Magazin der Journalistenakademie.

Infos zum Ägyptischen Museum München

Ägyptisches Museum München
Gabelsbergerstr. 35
80333 München
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Öffnungszeiten: Montags geschlossen (außer Oster- und Pfingstmontag) / Di 10 – 20 Uhr / Mi – So 10 – 18 Uhr (achte auf die Schließtage!)
Eintrittspreise: Erw 7,- / Ermäßigt 5,- / Kinder bis 18 J. freier Eintritt
Die Angebote für Barrierefreiheit sind sehr umfänglich.

Lesetipp:
  1. Das Blog der Museumspädagogin Roxane Bicker: www.arbabat.wordpress.com
  2. Museen für Kinder in München – fünf Tipps für Familien
  3. Konträr dazu, da anderer Kontext – Galerie: „Der Umgang mit Kunst: Anfassen, um zu begreifen?

#Followerpower für die Reportage gefragt: Welches Museum bietet Führungen für Blinde und Sehbehinderte an? Wie läuft das bei euch ab? Wie ist die Rückmeldung der Teilnehmer? Und anders: Wie erschließt du dir Kunst, wenn du seheingeschränkt bist?

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11 Kommentare

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  4. we-love-webdesign

    Hey Tanja,

    ich bin ein junger Mediengestalter aus Hannover und interessiere mich für Kunst in allen Bereichen!

    Heute bin ich auf deinem Artikel hängen geblieben und wirklich begeistert davon mit wie viel Leben du den Inhalt rüber bringst.

    Danke, es hat Spaß gemacht das alles zu lesen.

    Weiterhin ein schönes und erfolgreiches Jahr 2018 :)

  5. Liebe Tanja,

    schöner Beitrag zu einem wichtigen Thema! Zu Deinen Fragen wollte ich mich kurz zurückmelden: Führungen für Blinde & Sehbehinderte sind bei uns im Marta ebenfalls immer wieder präsent. Wir bieten diese immer zu unseren „großen“ Ausstellungen in den Gehry-Galerien an, also dreimal im Jahr. Die Führung dauert dabei natürlich länger als gewöhnlich (rund 90 Minuten). Meine Kollegin setzt zu Beginn die Ausstellung in den Kontext, beschreibt ausgewählte Stücke in ihrer Form und im Material. Einige Werke dürfen nach vorheriger Absprache mit Handschuhen auch angefasst und somit vorsichtig ertastet werden. Ich denke, dass es ganz ohne haptisches Gefühl sonst auch nicht wirklich gut funktioniert. Als Museum in der ostwestfälischen Peripherie ist der Zulauf zufriedenstellend – Luft nach oben gibt es natürlich immer. :)

    Herzliche Grüße aus Herford
    Daniela

    • Tanja Praske

      Liebe Daniela,

      wunderbar – vielen herzlichen Dank für deine Rückmeldung!

      Ich finde es genau richtig und wichtig, dass ihr das anbietet. Ich überlege mir mal etwas für die Reportage und öffne diese eventuell einfach. Wenn es dir/euch Recht ist, nehme ich deinen Kommentar darin eventuell auf. Passt das?

      Alles Gute euch!

      Herzlich,
      Tanja

  6. Pingback: Museen für Kinder in München - fünf Tipps für Familien | #MusTipp (2)

    • Tanja Praske

      Liebe Doreen,

      ja, das war es auch und es geht weiter! Eine Reportage zu schreiben, ist wieder eine neue Textsorte für mich, die mir sehr gefällt!
      Mir fehlt nur die Zeit hier weiterzuschreiben. Gebe Bescheid, wenn es on geht!

      Herzlich,

      Tanja

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