Das französische Königsbild im Mittelalter: Ludwig IX. – Porträt oder Typus? | #Deutungskämpfe

Das individualisierte Königsbild in Frankreich im Mittelalter: Porträt oder nicht-Porträt – das ist hier die Frage, oder auch nicht. Für die Blogparade Deutungskämpfe der staatlichen Archive in Bayern räubere ich meine Doktor-Arbeit „Ludwig IX. der Heilige – eine Zäsur für die monumentale französische Königsdarstellung. Bildkonzepte der Zeit Philipps IV.“ Die Porträt-Frage beschäftigte mich darin intensiv. Tatsächlich komme ich zu einem anderen Ergebnis als gängige Forschungsmeinungen. Verrückte Argumentationsmuster erlebte ich. Was diese waren und wie ich diese für mich aushebelte, das lest ihr im Nachfolgenden – back to the roots für mich. 

Ludwig IX. der Heilige, Statue in der Pfarrkirche von Mainneville. Deutungskämpfe
Ludwig IX. der Heilige, Statue in der Pfarrkirche von Mainneville. Deutungskämpfe

Ich hätte kaum gedacht, dass ich hier im Blog ein mediävistisches Thema ausbreiten würde. Zu lange hat mich die Doktor-Arbeit beschäftigt, zu weit entfernte ich mich mental die letzten Jahre von ihr und den Themen. Was ich euch heute vorstelle, beruht auf dem Forschungs-Stand meiner Dissertation von 2007, mit Überarbeitung der digitalen Veröffentlichung für die Universitätsbibliothek in Frankfurt von 2015. Also, an alle Mediävist*innen – ihr findet hier ein Exzerpt mit veralteter Forschungslage etwas anders dargeboten wieder und mit Augenzwinkern.[1] An alle Lesenden: viel Vergnügen – ich versuche mal, das Wissenschaftliche lesbarer herunterzubrechen. Meine Familie litt arg in meiner doktorierenden Phase.

Das französische Königsbild im Mittelalter – Porträt oder Typus?

Bis zur 2. Jahrhunderthälfte des 13. Jahrhunderts sind individualisierende Züge im Antlitz von Herrschern in Frankreich ein Tabu und nicht nur hier. Warum? Das begründet sich theologisch, da Individualisierungen mit dem Sündhaften assoziiert sind. Gleichförmigkeit wird mit der göttlichen Uniformität verbunden. Alles was davon abweicht, ist lange Zeit negativ besetzt: So zeigen allein Darstellungen der Sünde und des Lasters individualisierunde, oft verunglimpfende Züge. Das skulpturale Königsbild erscheint in Frankreich zunächst folgerichtig, und nachdem es von Ludwig IX. dem Heiligen ab Mitte des 13. Jahrhunderts systematisiert wurde, in einem uniformen, austauschbaren Königs-Typus. Denn die Gleichung lautet: individualisiert gleich negativ. Zack: einfache Deutung. Und urplötzlich tritt gegen 1300 und dann vor allem in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein individualisiert erscheinendes Königsbild auf. 

Setzt hinter „urplötzlich“ ein Fragezeichen. Denn während der Revolutionszeit und vor allem den Wirren danach, zerstörten die Revolutionäre und Funktionäre – Geschäftsleute – Königsfiguren und Königsbauten sowue Kirchen mit skulpturalen Darstellungen. So baute man beispielsweise zunächst eine Straße durch die Abteikirche von Cluny, bis man diese fast zur Gänze abtrug und das Baumaterial wiederverwendete. Kein Einzelschicksal. Königsskulpturen an Fassaden der großen Kathedralen schlug man die Köpfe und Insignien ab. Verhasst waren die Darstellungen und dahintersteckenden Ideen und Ansprüche. Kirche und Staat wurden voneinander getrennt. Auch kein leichtes Unterfangen für Überlieferungs- und Erhaltungsfragen in aktueller Zeit. Darauf ging ich bereits in „die Tränen von Mainneville“ ein. Sehr treffend zum heutigen Artikel. Fakt ist, aufgrund des großen Verlustes skulpturaler Königsfiguren musste vieles aus Zeichnungen, Quellenbeschreibungen, Fragmenten und verbliebenden Figuren rekonstruiert werden. Hier sind vor allem die Arbeiten von Wolfgang Brückle und Bernd Craqué hervorzuheben.

Zurück zum Königsbild ab 1300: und nun tauchen „plötzlich“ individualisiert anmutende Merkmale im Antlitz des Königs auf – Zack: ein Porträt, so zunächst die verbreitete Deutung in der Forschung. Ein Trugschluss? Definitiv ein Ausweis für hart gefochtene Deutungskämpfe.

Ludwig IX. der Heilige, Statue in der Pfarrkirche von Mainneville. Deutungskämpfe
Ludwig IX. der Heilige, Statue in der Pfarrkirche von Mainneville. Deutungskämpfe. Ganzaufnahme. Leider ist die Statue durch Klimabedingungen gefährdet.

Die Darstellung Ludwigs IX., des 1297 heiliggesprochenen Königs, wie er von der Königsstatue in Mainneville verkörpert wird, erscheint bartlos, individualisiert: eckiges Gesicht, ausgemergeltes Antlitz mit hohlen Wangen, Leidens-Habitus sowie ausgeprägte Halsmuskulatur. Die Formanalyse der pathognomischen (= mimischen) und pyhsiognomischen Merkmale ergibt eine Auseinandersetzung mit Darstellungen von Märtyrern und leidenden Heiligen für die skulpturalen Repräsentationen Ludwigs IX.[2]. Kein Porträt also, sondern ein Typus mit dem sich bestimmte Ideen und Botschaften verbinden.

Das Antlitz von Ludwig IX., wie es die Statue in Mainneville zeigt, weicht definitiv von der uniformen Grabserie in Saint-Denis, die der König selbst beauftragte, ab: Die Herrscher zeigen keine Individualisierungen, sind zumeist bärtig, während Bartlosigkeit die jung verstorbenen kennzeichnet. Insgesamt sind die Grabfiguren austauschbar, uniform und favorisieren somit eine einfache Deutung.

Anders nun das Antlitz Ludwigs IX.: Es weicht drastisch vom uniformen Königstypus ab. Und schwupps versuchte die Forschung darin Individualisierungen zu deuten und legte eine Porträt-Absicht nahe. Argumentation lieferte ihnen das ungewohnte Formenvokabular, wie z. B. die ausgeprägte Halsmuskulatur. Schnell fand man weitere Köngisfiguren mit der ausgemergelten Physiognomie und der auffälligen Halspartie. Vorher waren sie nicht identifizierbar, jetzt deutete man sie als Darstellungen Ludwigs IX. Untermauert wurde das mit einer bestimmten Quelle aus dem 13. Jahrhundert. Sie vermittelt ein ganz bestimmtes Bild vom heiliggesprochenen König. Dabei wird die Quelle allerdings nur selektiv rezipiert. Sie wird physiognomisch gedeutet, um den Aspekt der Ähn­lichkeit zu formulieren und damit die Porträt-Frage zu bemühen. 

Ludwig IX. der Heilige in Mainneville beeindruckte mich sehr. Deutungskämpfe
Ludwig IX. der Heilige in Mainneville beeindruckte mich sehr. Deutungskämpfe

Thomas von Cantimpré über Ludwig XI.: „miserabler scheinheiliger König“

Der Dominikanermönch Thomas von Cantimpré schildert die Episode eines vom Grafen von Gueldre, Otton II. (1229-1271), an den franzö­sischen Hof geschickten Spions im Jahr 1260. Dieser berichtet dem Grafen, er selbst habe den „miserablen scheinheiligen König“ mit seinem „schiefen Hals“ gesehen. Dieser habe zur Kopfbedeckung eine an seinem Gewand befestigte Kapuze getragen.[3] Die Bezeichnung „schiefer Hals“ diente der Forschung als Anhaltspunkt für eine mögliche, entsprechende Deformation des Königs.[4] Sie ist in der Tat nicht auszuschließen. Ludwig IX. durchlebte zahlreiche schwere Krankheiten. Seine „Biographen“ erzählen von diesen in teils schillernder Weise.[5]

Guillaume de Saint-Pathus in Vie de Saint Louis[6] berichtet über die Erkrankung des Königs auf seinem ersten Kreuzzug in Ägypten:

[…] Et li benoiez rois estoit si malade que les denz de la bouche li hochoient et movoient et sa char estoit pale et teinte, et avoit flux de ventre trop grief et estoit si megres que les os de l’eschine de dos estoient merveilleusement aguz […].[7]

Freie Übersetzung:

Der König sei so krank gewesen, dass ihm die Zähne im Mund wackelten, seine Haut war bleich und er hatte Magenprobleme und war so mager, dass seine Knochen spitz hervorstachen.

Die zwanghafte Suche nach Merkmalen für eine Ähnlichkeit seiner Bildwerke und die Schilderung Cantimprés führten dazu, dass der verunglimpfende Aspekt der Anekdote weitgehend unberücksichtigt blieb.[8] Die Bezeichnung „schiefer Hals“ ist eine rhetorische Form. Sie bedeutet eine negative Charakterisierung des Königs.[9] Diese Überzeichnung kulminiert darin, dass der Bote die von ihm verspottete, unnatürliche Haltung imitiert. Jedoch wird der Ausgang der Erzählung in der Forschung gänzlich unterschlagen. Nach Cantimpré wurde die Diffamierung Ludwigs IX. in einer Art und Weise vergolten, die den Zeitgenossen als Wunder erscheinen musste: Der Übeltäter blieb für den Rest seines Lebens mit eben der von ihm karikierten, missgestalteten Haltung gemaßregelt.[10]

Ludwig IX. der Heilige, Mainneville. Deutungskämpfe
Das gehört zur Arbeit der Kunsthistorikerin: Skulpturen von allen Seiten zu betrachten. Hier Ludwig IX. der Heilige, Mainneville. Deutungskämpfe

Die Leiden der Heiligen und die Verbindung zu den Bettelorden

Die Ambivalenz in der Darstellung der Leiden der Heiligen findet hier ihren Niederschlag. Das Erleiden von Krankheiten ist eine Strafe von Gott. Erst in der Überwindung der körper­lichen Gebrechen und Begierden legitimiert sich die Krankheit. So kommt es dazu, dass die Leiden des Königs positiv bewertet werden. Sie werden gedeutet als notwendiger, transi­torischer Zustand auf den Weg zu der himmlischen Glückseligkeit. Hingegen symbolisiert die Missgestalt des Boten eine endgültige Strafe.[11]

Ein bestimmtes Bild Ludwigs IX. entsteht hier: Er erscheint nicht nur unberührbar von Denunziationen, vielmehr werden Anfeindungen seiner Person von höchster Stelle bestraft. Seine Herrschaft gründet auf Gottes Gnade. Ihm dient er und ihm ist er direkt unterstellt. Im Gegenzug dafür bürgt Gott unmittelbar für ihn. 

Die Anekdote wird einer selektiven, rein physiognomischen Auslegung in keiner Weise gerecht; vielmehr ist sie vor allem als Verteidigung der kritisierten, ausge­prägten Frömmigkeit Ludwigs IX. zu werten. Darauf verweist die Bezeichnung „scheinheilig“ mit dem Zusatz, der König habe zur Kopfbe­deckung eine an seinem Gewand befestigte Kapuze. Letzteres spielt auf die Tracht der Bettelorden an. Den Hintergrund zu dieser Kritik bildet Ludwigs IX. massive Unterstützung der Bettelorden und hier insbesondere der Franziskaner und Dominikaner. Aus ihren Reihen stammen einige seiner Ratgeber.[12]

Die Maxime der vita apostolica, die diese Orden befolgen, sowie ihr daraus resultierender enthaltsamer Lebensstil, rüttelt an den Grund­festen der sozialen Ordnung. Sie ruft dadurch vor allem den Argwohn des Klerus hervor. Folglich eskaliert die Auseinandersetzung zwischen dem Klerus und den Bettelorden in den 1250er Jahren. Die Pariser Universität ist in zwei Fraktionen, Klerus versus Orden, gespalten. Sie besitzt eine maßgebliche Rolle innerhalb des Konfliktes.[13] 1256 entscheidet sich dieser zugunsten der Orden. Anlass dafür ist William von Saint-Amour, Kleriker und ein Lehrender der Pariser Universität. Er beleidigt in einer Predigt öffentlich den König, indem er dessen extremen religiösen Lebenswandel anprangert.[14] William beanstandet überdies die schlichte Kleidung Ludwigs IX. Sie verstoße gegen die königliche dignitas (=Würde). Weiterhin stände es einem König nicht zu, sich mit Vagabunden zu um­geben. 

Mit Vagabunden sind die Bettelorden gemeint. Sie kritisierte William von Saint-Amour bereits zuvor in einem Traktat vehement. Diese bedeutende Schrift lässt eine Parteinahme für die Orden vorerst unmöglich erscheinen. Auf­grund der Beleidigung jedoch erreicht Ludwig IX., dass der Papst das Traktat von William in einer Bulle unwiderruflich verdammt. Damit sind die Bettelorden zwar einstweilen aus der Bedrängnis befreit, aber die Kritik an der positiven Haltung Ludwigs IX. ihnen gegenüber bleibt bestehen. 

Rutebeuf liefert davon in seinen Fabliaux und Satiren Zeugnis ab. In Complainte de Constantinople (1262) beklagt er sich beispielsweise darüber, dass die Ordensbrüder zu Herren über Könige, Geistliche und Grafen werden[15]. Sein Fabliau Frère Denise präzisiert seine Abneigung gegen die Bettelorden. Er lässt hier eine Frau ausrufen:

Faus papelars, faus ypocrite,
Fausse vie menez et orde.
Qui vous pendroit a vostre corde
Il avroit fet une bone jornee (244-247)[16]

Frei übersetzt:

Falsche Scheinheilige, falsche Heuchler,
Falsches Leben und Ordnung führt ihr.
Wer euch an eurer Kordel aufhängt,
Der macht sich einen schönen Tag

Als papelart (Scheinheiliger) bezichtet er im Chanson des Ordres wiederum die Anhänger der Bettelorden.[17]Es besteht Grund zur Annahme, dass diese Umschreibung für die Bettelorden in der Zeit bekannt ist. Die Anekdote scheint dies zu belegen. 

Der Dominikanermönch Thomas von Cantimpré greift nun genau auf die negative Bezeichnung scheinheilig zurück. Im Unterschied dazu wird der Bote mit der schiefen Haltung dauerhaft bestraft. Dadurch wird nicht nur die Religiosität des Königs gerechtfertigt, sondern ebenso die Rechtmäßigkeit der Bettelorden manifestiert.[18]

Welche Rückschlüsse erlaubt nun die Schilderung Cantimprés für das Er­scheinungsbild Ludwigs IX. im Allgemeinen und auf seine Repräsentation in Mainneville insbesondere? Eine physiognomische Deutung der Quelle erscheint nach den vorangestellten Überlegungen unwahrscheinlich, trotzdem kann sie auf­grund der zahlreichen Krankheiten Ludwigs IX. nicht definitiv ausgeschlossen werden. Es wird zwischen den Zeilen vielmehr das Bedürfnis nach einer die Handlungen des Königs legitimierenden Argumentation spür­bar. 

Ludwig IX. der Heilige, Mainneville. Deutungskämpfe
Ludwig IX. der Heilige, Mainneville. Deutungskämpfe

Darstellungen Ludwig IX. – Ausweis der Imitatio Christi

Das Antlitz Ludwigs IX. in Mainneville, die ausgezehrte, knochige Struktur mit den eingefallenen Wangen, den ausgeprägten Naso-Labialfalten und den leicht herunter gezogenen Mundwinkeln, sind verbunden mit dem Typus des leidenden Heiligen. Sie werden zum ikonographischen Kennzeichen des Königs: seine Bildwerke im Museum Cluny (Abb. 17)[19] und in Lingreville spiegeln in unterschiedlicher Intensität diese Merkmale wider; von einer ähnlichen Auffassung, wenngleich in abgemildeter Formulierung, kündet sein Relief im Museum Carnavalet (Abb. 5). Analogien in der Gesichtsbildung ergeben sich auch zur Skulptur des Königs in Amiens (Abb. 15).[20]

Musée de Cluny in Paris, mein Lieblingsmuseum. Gleichzeitig ließe es sich zu ihr auch ein Beitrag zu #Deutungskämpfe schreiben, denn laut Kuratorin wird sie nicht im Museum ausgestellt, weil ihr Datierung umstritten ist. Gerade die Konfrontation visa vie würde den Diskurs öffnen und vielleicht zu neuer Erkenntnis führen.
Diese Holzstatuette begutachtete ich im Depot des Musée de Cluny in Paris, mein Lieblingsmuseum. Gleichzeitig ließe es sich zu ihr auch ein Beitrag zu #Deutungskämpfe schreiben, denn laut Kuratorin wird sie nicht im Museum ausgestellt, weil ihr Datierung umstritten ist. Gerade die Konfrontation visa vie würde den Diskurs öffnen und vielleicht zu neuer Erkenntnis führen.

Dem gelängten Gesicht verleihen ausgeprägte Jochbeine und der eckige Verlauf des Unterkiefers eine markante Kontur. Die Wangen wirken unterstützt von den ausgeprägten Naso-Labialfalten eingefallen. Der Duktus des Bildhauers in Amiens ist gänzlich verschieden von demjenigen in Mainneville. Dennoch entspricht das Grundschema der physiognomischen Züge, ihr ausgezehrter Eindruck einem gemeinsamen Typus – dem des leidenden Heiligen. 

Die Übereinstimmungen der skulpturalen Darstellungen Ludwigs IX. schließen sämtliche Zweifel bezüglich einer Identifizierung mit dem kanonisierten König in Mainneville aus. Die physiognomischen und pathognomischen Besonderheiten Ludwigs IX. erhalten ihre Legitimation gerade durch den Typus des leidenden Heiligen. Dieser bildet die Voraussetzung dafür, dass individualisierende Züge, nicht wie in Chartres die Königsköpfe zur Darstellung der Tyrannis, sondern zur Darstellung des Heiligen, der durch seine Heiligkeit aus der Uniformität heraustritt, nunmehr positiv bewertet werden. Indes bedeutet zu leiden den Sündenfall überwinden und dadurch himmlische Glückseligkeit erlangen.[21]

Ludwig IX. der Heilige im Musée Carnavalet. Ein Typus wie der Vergleich zur Statue in Mainneville zeigt.
Ludwig IX. der Heilige im Musée Carnavalet. Ein Typus wie der Vergleich zur Statue in Mainneville zeigt.

Bei dem Offizium, das Arnould du Pré für den Gedenktag Ludwigs IX. am 25. August geschrieben hat, Ludovicus decus regnantium, wird unter anderem dieses zum Ausdruck gebracht: rex internae dulcedinis, arcens potenti spiritu pestes carnis et sanguinis.[22] Dahinter verbirgt sich ein Teil der Biographie Ludwigs IX. Er hatte eine Vielzahl von schweren Krankheiten zu erleiden, die er mit Würde und vor allem durch seinen gefestigten Glauben ertrug.[23] Der Tod zu Anfang des zweiten Kreuzzugs erhebt den König zum Märtyrer. In dieser Kombination von Leid und Tod eruiert Jacques Le Goff die imitatio Christi Ludwigs IX.: danach konkre­tisiert sich der neue Entwurf des Königtums in „Christ crucifié portant la couronne“.[24] Der liturgische Text von Du Pré bestätigt im weiteren Sinn die imitatio Christi des Königs, insofern er hier mit Christus verglichen wird: (Regem) Christo Christum conformatum.[25] Diese Form der politischen Selbstdarstellung Ludwigs IX. entspricht der von den Bettelorden vehement gepredigten imitatio Christi

Fazit: Ludwig IX. im Typus des leidenden Heiligen

Zahlreiche Darstellungen des Königs sind dem Typus von Mainneville an­hängig.[26] Wichtiger noch als nach einem möglichen Vorbild zu suchen, ist die aufgrund der Heiligsprechung Ludwigs IX. nachvollziehbare Erweiterung der Aussage des Königsbildes. Sie wird ausschließlich an seiner Darstellung manifest. Zuvor diente das Königsgrab vorrangig der Memoria, wenngleich es auch für herrschaftliche Aussagen instrumentalisiert werden konnte (siehe in der Dissertation die Analysen zur Grabserie unter Ludwig IX.). Die Kanonisation  (= Heiligsprechung) des Königs bewirkt eine wesentliche Veränderung: im Einzelfall kommt eine Kultfunktion hinzu.

Das politische Konzept der imitatio Christi, dass Ludwig IX. vehement verfolgte, findet ihren Niederschlag in der Ikonographie des geheiligten Königs. Erst mit der zu erwartenden Heiligsprechung Ludwigs IX. ist eine Loslösung vom nahezu uniformen Königstypus möglich. Die Leiden der Heiligen werden positiv verstanden. Die Realismen des Heiligenbildes stellen keinen neuen Drang zum Naturstadium dar, „vielmehr wird die Wirklichkeitsdurchdringung und Wirklichkeitsplausibilität der Heiligen erprobt“. Sie wirkt affektiv und besitzt ihren Ausgangspunkt in der Devotion.[27]

Das Antlitz Ludwigs IX. spiegelt die Auseinandersetzung mit dem Heiligenbild wider. Vor allem steht damit Philipp IV., sein Enkel, ein gewichtiges Instrument zum Ausbau der besonderen Sakralität des französischen Königtums zur Verfügung. Letztlich dienen Ludwig IX. und der Kult um ihn der Legitimität des aktuellen Herrschers. Die Aufträge Philipps IV. demonstrieren in aller Klarheit diesen Aspekt.[28]

Die Ausführungen sind verkürzt meiner Dissertation übernommen. Die neuer Forschungslage nach 2006 bzw. nach 2015 blieb unberücksichtigt. Die Blogparade #Deutungskämpfe war ein prima Anlass, Passagen aus meiner Arbeit herauszulösen. Die Porträt-Frage ist eine anhaltende und heftig umkämpfte Frage: eine Formanalyse mag hier objektivieren. Mir reicht jetzt die Rolle rückwärts. 

Erste Ergebnisse der Arbeit stellt ich in einem Vortrag 2002 vor, der publiziert ist in:

  • Martin Büchsel, Peter Schmidt (Hrsg.), Realität und Projektion. Wirklichkeitsnahe Darstellung in Antike und Mittelalter, Berlin 2005. Tanja Praske, Bildstrategien unter Philipp IV. dem Schönen (1285–1314) und Karl V. dem Weisen (1364–1380). Das französische Königsbild im Wandel. S. 147–170.

Über die Leidensstrecke meiner Dissertation einschließlich des Abbildungsverzeichnisses bloggte ich mehrfach. Hier nachzulesen in:


[1] Dissertation als Download unter Elektronische Dokumente der Universitätsbibliothek der Goethe-Universiät Frankfurt einsehbar: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/36543
[2] Der ausführliche formanalytische Vergleich zu den Heiligen in: Tanja Praske, Dissertation, Kap. “Ein neuer Typus, der leidende heilige König“, S. 138 ff.
[3] Carolus-Barré, 1994, S. 248. Fournée, 1974, S. 33.
[4] Ebd., S. 33 u.a.
[5] Für eine detaillierte Analyse des Krankheitsbildes Ludwigs IX. basierend auf Textquellen vgl. Brachet, 1903, S. 353 ff., bes. 392 ff., 397 ff. Zuletzt hierzu Le Goff, 1996, S. 864-867. 
[6] Eine erste Redaktion des Textes lag vermutlich 1303 vor. Zur Biographie und kritischen Bewertung Guillaume de Saint-Pathus vgl. ebd., S. 337-344. 
[7] Guillaume de Saint-Pathus, 1899, S. 71.
[8] Einzig die kaum beachtete Studie von Joseph de Terline stellt sie in ihrer Ganzheit vor. Trotzdem geht er auch von der ausgeprägten Halsmuskulatur als spezifisches Merkmal Ludwigs IX. aus. Terline, 1951, S. 128 ff. Differenziert hierzu äußert sich Fournée, 1974, S. 33.
[9] Hier ist zu eruieren, ob und in welchem Kontext die Bezeichnung “schiefer Hals” vorher auftritt. Anhaltspunkte hierzu könnte eine Analyse der Fabliaux geben, denen ähnliche, karikierende Elemente inhärent sind.
[10] Carolus-Barré, 1994, S. 248.
[11] Der Wechsel von positiven zu negativen Bewertungen identischer Merkmale und umgekehrt wird bereits eindrucksvoll vorgeführt von Struss, 1980. – Zu der Bedeutung der Leiden von Heiligen vgl. Tanja Praske, Kap. 5.1.
[12] Zur Kritik an der Frömmigkeit Ludwigs IX. und an seiner Politik vgl. Le Goff, 1996, S. 814-825, bes. S. 822-825. Allgemein zu seiner Devotion vgl. ebd., S. 744-780.
[13] Grundlegend zu dem Konflikt und die Rolle die Ludwig IX. dabei einnimmt vgl. ebd., 136-143. Zusammenfassend mit Literaturüberblick zu dem Konflikt vgl. Gaposchkin, 2000, S. 66 ff. Das Folgende bezieht sich auf Little, 1964.
[14] Zu William von Saint-Amour vgl. Dufeil, 1972. Zur Beziehung von William von Saint-Amour und dem König sowie dessen Haltung zum Streit vgl. ders., 1976, 281 ff.
[15] Little, 1964, S. 143.
[16] Zitiert nach Dufournet, 1984, S. 152.
[17] “Qui ces deus n’obeist / Et qui ne lor gehist / Quanqu’il onques feist, / Tels bougres ne nasqui. / Papelart et beguin / Ont le siecle honi. / Assez dient de bien, / ne sai s’il en font rien; / Qui lor done du sein, / tel preudomme ne vi…” (Vers 25-34). Zitiert ebd., S. 161.
[18] Thomas von Cantimpré äußerte sich bereits vorher empört zu den Vorwürfen an die Bettelorden, welche die Kleriker der Pariser Universität verbreiteten, indem er sie der Lügen bezichtigt. Vgl. Little, 1964, S. 139.
[19] Die Nummerierung habe ich meiner Dissertation und dem Abbildungsverzeichnis entnommen, hier könnt ihr nachschauen, wie diese Statuen aussehen: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/36543 – hier könnt ihr euch den Katalog herunterladen und einsehen.
[20] Zu der Skulptur des Königs in Amiens siehe Kap. 3.1. mit Literaturhinweisen.
[21] Büchsel, 2003, S. 127 ff.; Ergänzend hierzu Pulz, 2003, S. 57 ff.
[22] Folz, 1971, S. 31-45, bes. S. 42. Die Datierung schwankt zwischen direkt nach der Kanonisation und 1301 und 1306. Epstein, 1978, S. 283 ff. Ein weiterer liturgischer Text wurde zum zweiten Gedenktag Ludwigs IX. am 17.06.1306 erstellt, der Tag der Überführung der Kopfreliquie des Heiligen von Saint-Denis nach Paris zur Sainte-Chapelle.
[23] „Sic vir totus in fide fixus, et totus in spiritum absorptus, quanto magis erat malleis adversitatis et infirmatis adtritbulatus, eo plus fervorem emittens, in se perfectionem fidei declarabat”, Guillaume de Chartres, 1840, S. 36.[24] Le Goff, 1996, S. 882.
[25] Folz, 1971, S. 42 u. Anm. 74.
[26] Hierzu zählen die Darstellungen im Museum Cluny, im Museum Carnavalet, in Amiens, in Corny,  Lingreville und in Angicourt (Oise). Die Skulpturen datieren alle im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts. Die Repräsentation Ludwigs IX. in Carcassonne ist singulär und fällt nicht in diese Kategorie. Vgl. Lahondès, 1900.
[27] Büchsel, 2005, S. 25 f.
[28] Siehe hierzu die Arbeit von Brückle, 2005.

Alle Quellenangaben findet ihr in meiner Dissertation hier wieder: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/36543

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