Ge(h)denken – die Lebensborn-App – eine virtuelle Ausstellung in München

Gehdenken AppGe(h)denken – das Kultur-Referat München geht neue Wege: Anstelle einer Ausstellung setzten sie auf eine App, um das Schicksal der Lebensborn-Kinder ins Gedächtnis der Münchner und aller Interessierten zu rufen. Ge(h)denken heißt diese Web-App. Die Stadt ging damit ein Experiment ein. Warum? Das erfahrt Ihr im Artikel „Darf man das? Geschichte als App“. Er fasst die Ergebnisse einer Podiumsdiskussion zur App zusammen. Jetzt löse ich mein Versprechen ein und stelle euch die Lebensborn-App vor.

Doch zuvor skizziere ich, was nach der Podiumsdiskussion geschah. Die Verantwortlichen erbaten von den Nutzern bzw. Interessierten Feedback – Stichworte: #Nachhaltigkeit und #Weiterentwicklung. Der Aspekt eröffnet neue Chancen für Kulturinstitutionen und ist in der Konzeption von Kultur-Apps mit zu berücksichtigen.

Was passierte seit der Podiumsdiskussion?

Viel. Die Web-App kam im Juli 2013 nach der Podiumsdiskussion heraus. Bei der offiziellen Vorstellung war zumeist älteres Publikum anwesend, das die Web-App gerne auf dem Desktop eingesehen hätte. Mittlerweile hat das Kultur-Referat diesen Wunsch umgesetzt. Unter www.muenchen.de/gehdenken/ ist die Lebensborn-App nun sowohl am Desktop als auch auf mobilen Endgeräten einsehbar.

Ein Blog für die Ge(h)denken-App

Ein kleines Blog begleitete die Ge(h)denken-App (Blog ist verschwunden, 2018). Es bietet vertiefendes Material zur Geschichte des Lebensborns in München. Empfehlenswert ist das Youtube-Video mit Dr. Heusler über die Web-App. Er definiert die Ziele der App und stellt sehr offen die Überlegungen vor, die zur Entscheidung für eine virtuelle Ausstellung via App und damit gegen eine „herkömmliche“ Ausstellung sprachen. Über die App soll auch der jüngere, technikaffine Nutzer angesprochen werden. Geschichtsvermittlung kleidet sich also in ein modernes Gewand. Klassische analoge Formate werden dadurch ergänzt. Verwischte Spuren des Lebensborns in der Topografie Münchens werden virtuell greif- und erlebbar. Tatsächlich berührt die Lebensborn-App!

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Was ist der Lebensborn überhaupt?

Heinrich Himmler gründete 1935 den Lebensborn e.V. Der Verein der Schutzstaffel (SS) diente dazu, die Geburtenrate „rassisch wertvoller“ Kinder im Sinne der Rassentheorie der NS-Ideologie zu steigern. Anders ausgedrückt: Es ging um die Wehrhaftmachung der Nation, für die eine hohe Geburtenrate unabdingbar war. Anfänglich bot der Verein die Möglichkeit für Frauen von SS-Männern sowie für „rassisch wertvolle“, ledige Mütter ihre Kinder in den Lebensborn-Heimen zu entbinden. Der Ansatz wurde schnell ausgeweitet. Es entstanden Lebensborn-Heime jenseits des Reichsgebietes in den besetzten Ländern Europas. Zu den Aufgaben des Vereins zählte die Vermittlung von Adoptiv-Kindern an „arische Ehepaare“. Zudem sorgte der Verein für die Eindeutschung der ausländischen Kinder in den besetzten Gebieten.

Die Rolle Münchens

Die Zentrale des Lebensborns war seit 1938 in München, zuerst in der enteigneten Thomas Mann Villa, nach 1940 kam dann die Verwaltung des Lebensborns in jüdischen Immobilien unter. Das erste Lebensborn-Heim „Hochland“ entstand 1936 vor den Toren Münchens in Steinhöring, weitere folgten in München nach. Die App zeichnet die Spuren des Lebensborns in München nach.

Aufbau der Ge(h)denken-App

Vom Design her ist die App minimalistisch aufgebaut: schwarzer Hintergrund mit gelber Schrift. Der Content ist andersfarbig abgesetzt. Der Nutzer muss den Fußspuren folgen, die sich bei Berührung gelb verfärben, um zu den einzelnen Abschnitten zu gelangen. Manchmal müssen diese in spezifischer Art berührt werden, bevor sich der Content öffnet. Eine weitere Navigation bietet die Menü-Leiste, hier kann der Nutzer auswählen und unterliegt nicht der Linearität der Hauptspur. Oben links gibt eine Prozentzahl an, wie viel Content der App schon eingesehen wurde.

Gehdenken / Lebensborn-App

Die App gliedert sich in drei Abschnitten: übergreifende Artikel zum Lebensborn, Verortung des Lebensborns in München sowie Exkurse. Video-, Text- oder Bildmaterial sind hinterlegt – mal mehr, mal weniger umfänglich und dadurch „verdaulich“. Die übergreifenden Artikel stellen die Hintergründe des Lebensborns in München vor. Die Immobilien des Lebensborns werden in München vergegenwärtigt. Schön ist, dass die Gebäude im Vergleich von damals und heute gezeigt werden. Die Lebensborn-Stationen sind zudem in einer Karte topografisch verortet.

Die Exkurse bieten entweder eine allgemeine Vorstellung des Lebensborns in der NS-Ideologie oder sie klären spezifische Fragestellungen, die zum Verständnis wichtig sind. Durch den Wechsel von Haupt- und Nebenspur, den Medien-Mix sowie die knappen Texte ist die App kurzweilig.

Was ist die Stärke der Ge(h)denken-App?

Am meisten berührten mich die Video-Interviews mit den Lebensborn-Kindern. Sie bringen das Schicksal dieser entwurzelten Menschen näher. Sie kannten vielleicht noch ihre Mutter, aber nur wenig bis gar nichts über den Vater. Zur NS-Zeit waren die Lebensborn-Kinder als „Elite“ hochgeschätzt. Nach Kriegsende galten sie dann als Bankerts und man verachtete sie als Zeugnisse der „Zuchtanstalt Lebensborn“. Minderwärtigkeits-, Scham- und Schuldgefühle kennzeichneten ihren Lebensweg. Nachzulesen bei Heilweg Weger, die ihr Trauma als uneheliches Kind in der NS-Zeit in einem Buch verarbeitete. Die Zeit berichtete darüber. Allein die Vorstellung, dass die Gefühle von Schuld und Schande das Leben der Lebensborn-Kinder bis ins hohe Alter hinein beherrschten und das noch immer tun, erschreckt und berührt mich zutiefst. Eine glückliche Kindheit sieht anders aus.

Die Ge(h)denken-App – ein Medium für die Schule?

Geschichte, zumal brisante Geschichte, wird kurzweilig über die App vermittelt. Ob sie ein jüngeres Publikum tatsächlich erreicht, ist fraglich. Hier wären die Lehrer gefragt, innerhalb des Geschichtsunterrichts weitere Facetten der NS-Zeit „anders“ zu beleuchten. Mein computeraffiner Junior wäre vielleicht darüber zu erreichen. Wenngleich es schwierig ist, 13jährige für Dinge zu begeistern, denen der Geruch von Schule anhaftet, integriert im Unterricht mag das schon wieder anders aussehen.

Die kurzen App-Texte sowie ihre visuelle Fokussierung könnten ihn erreichen. Ich fände es toll, falls Lehrer unter meiner Leserschaft sind, die die App mit ihren Schülern testen und uns über das Ergebnis berichten. Hier oder noch besser als Feedback innerhalb der App für das Kultur-Referat. Erfahrungswerte sind für vergleichbare Projekte gewinnbringend und essentiell.

Und was ist mit mir als netzaffine Nutzerin?

Mich hat die App berührt. Das Thema kann ich im flankierenden Buch „Der Lebensborn in München. Kinder für den Führer“ vertiefen – eine prima Kombination! Da ich sehr viel im Netz unterwegs bin, ist die Lebensborn-App ein prima Medium, mich zu erreichen.
Darf man das – Geschichte als App vermitteln? In meinen Augen: Ja und damit stehe ich nicht alleine da, wie die Kommentare in meinem ersten Artikel zum Thema zeigten! Wie ergeht es Euch?

8 Kommentare

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  3. Natürlich kann man Geschichte über Apps vermitteln und lernen. Mich wundert, dass das noch ernsthaft in Frage gestellt wird.

    Wir haben im letzten Jahr keine WebApp zur Vermittlung, sondern als Werkzeug zum Geschichtslernen entwickelt. Kern sind digitalisierte Quellen aus Archiven, die bereitgestellt, bearbeitet und lokalisiert werden können.

    Das Ganze ist noch Beta, Work in progress, aber an mehreren Stellen haben wir Schülerinnen und Schüler als Hauptzielgruppe in die Entwicklung mit einbezogen. Die Rückmeldungen zu notwendigen Verbesserungen und Weiterentwicklung harren noch der Umsetzung, für die zur Zeit das Geld fehlt. Die WebApp steht aber nichtsdestotrotz auch in der Beta-Version zum Ausprobieren zur Verfügung: http://app-in-die-geschichte.de/

    • Tanja Praske

      Lieber Herr Bernsen,

      oh, wunderbar – Dank meiner provokativen Formulierung „Darf man das?“ bin ich jetzt auf Ihr „work in progress“ gestoßen – die Seite gefällt mir auf den ersten Blick sehr gut. Prima ist Ihr Ansatz die Zielgruppe einzubinden, auch wenn jetzt die finanziellen Mittel zur weiteren Umsetzung fehlen. Mich würde das Feedback der Lehrer und Schüler interessieren, wie die Beta-Version ankommt. Auf jeden Fall finde ich es richtig, die Schüler dort zu haschen, wo sie sich tummeln, nämlich im Netz und ihnen zu zeigen, dass dieses zum Gamen und zum Recherchieren da ist. Am Ende macht Unterricht gar Spaß ;-)

      Die Ge(h)denken-App wurde von 2012-2013 konzipiert und umgesetzt. Für das Kultur-Referat war es das erste App-Projekt. Das Thema ist wichtig, birgt aber auch Brisanz. Mir gefällt es gut, dass die Fachleute bewusst damit umgegangen sind und ihre Überlegungen transparent gemacht haben. Sie sind dann einen richtigen Schritt gegangen. Die Befürchtungen waren und sind vielleicht noch immer relevant bei schwierigen Geschichts-Themen auf Apps oder Neue Medien zu setzen. Ähnliche Projekte hatten ähnliche Gedankengänge. Jetzt ist die WebApp realisiert und ich bin neugierig wie die weiteren Schritte in München sein werden.

      Es gibt zum Einsatz von Apps für Historiker einen guten Artikel von Kristin Oswald: http://kristinoswald.hypotheses.org/1038.

      Es freut mich sehr, dass Sie hier die Diskussion bereichern und ich ein feines Projekt darüber kennenlernen durfte – danke dafür!

      Schöne Grüße
      Tanja Praske

  4. Erst einmal danke für diesen sehr anschaulichen Artikel. Über Facebook bin ich auf ihn gestoßen. Sowohl via PC, als auch Smartphone und -pad lässt sich die Applikation gut bedienen (ist ja lediglich eine Homepage, die zur Optimierung für mobile Geräte ausgearbeitet wurde). Für den Geschichts- und Deutschunterricht, als auch den Sachunterricht problemlos tauglich. Hier ist eine Lehrkraft gefragt, wie sie die App bzw. Teile daraus einbindet. Grundvoraussetzung: sicherer Umgang mit mobilen Geräten. Hier sehe ich die eigentliche Problemtaik, dass es Lehrkräften schwer fällt, sich darauf einzulassen. Jugendliche dürfte sie dann Freude bereiten, wenn die Thematik durch die Lehrkraft anschaulich und entdeckend aufbereitet wird.

    Herzliche Grüße
    Thorsten Wollenhöfer

    • Tanja Praske

      Lieber herr Wollenhöfer,

      vielen Dank für Ihren Kommentar. Tatsächlich fände ich es prima, wenn Lehrer die Chancen der digitalen Geschichtsvermittlung ergreifen, sei es, dass sie Referatsthemen ausloben, oder die App in Auszügen direkt eingebunden wird, vielleicht im Verbund mit dem Buch.
      Der Informatik-Unterricht ist hier schon offener. Mein Sohn muss gerade mit einem Schulkollegen eine Website zu einem Naturwissenschaftler gestalten. Das betrifft die Programmierung, aber auch die Inhalte. Sie arbeiten jetzt zu Hause daran, um anschließend aus zwei Versionen eine zu machen und er hat Spaß daran. Auf das Ergebnis bin ich gespannt. Sicher ist aber, dass er anschließend sehr viel über diesen Naturwissenschaftler weiß.

      Nochmals vielen Dank!

      Schöne Grüße
      Tanja Praske

  5. Liebe Tanja,
    ich hab im Browser mir das Ganze mal eben angesehen und finde die App sehr gut gemacht. Auch das Nutzen verschiedener Medien finde ich gelungen. Wer hat die App gemacht? Das hab ich jetzt beim kurzen Durchschauen nicht gefunden. Aber es ist wirklich gute Arbeit. Dass man bei diesem Thema auf die Einbindung sozialer Netzwerke verzichtet, halte ich für sehr verständlich. Das hätte sicherlich riesige Ressourcen verschlungen. Obwohl es auch eine Chance gewesen wäre, ins Gespräch zu kommen. Ganz richtig fragst du nach den Schulen. Da gibt es noch nicht so viele Lehrer, die die Möglichkeiten neuer Medien für den Unterricht tatsächlich erkannt haben. Es wäre hier vielleicht auch ein Aspekt, den man hätte mit in die App einbauen können. Also die Frage, ob man hier ein virtuelles Klassenzimmer einbauen könnte oder Ähnliches. Lohnt sich, in diesem Sinne weiterzudenken.
    Man stellt aber freudig fest, dass es auf dem App-Markt immer weiter nach vorne geht und spannende Produkte entstehen.
    Danke für deinen Bericht.
    Herzliche Grüße und einen feinen Wochenanfang
    Anke

    • Tanja Praske

      Liebe Anke,

      deine Anregung ein „Fenster“ wie das virtuelle Klassenzimmer einzubauen, gefällt mir. Tatsächlich ist mir im deutschsprachigen Raum keine Kultur-App bekannt, die eine mögliche Zielgruppe in der Gestaltung einbindet. Hier dürfte Dorian Gütt eventuell mehr darüber wissen.
      Ein vergleichbares Feature für Schulen einzuarbeiten, entfaltet die größte Wucht, wenn die Zielgruppe tatsächlich eingebunden wird. Eine dementsprechende Herangehensweise ist ungleich aufwändiger umzusetzen. Durch ein App-Projekt, an dem ich gerade arbeite, weiß ich aus Erfahrung, wie stark die Ressourcen in einem Haus für eine App-Umsetzung gebunden werden. Gleichwohl ist der Aspekt gewinnbringend für eine App. #Nachdenk!

      Die Web-App wurde von „the hyphe“ umgesetzt.

      Merci für deine wichtige Anregung. Ich wünsche dir auch einen schönen Wochenstart.

      Herzlich,

      Tanja

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