KULTUR – MUSEUM – TALK

Pieter Brueghel in 3D – die „Volkszählung zu Bethlehem“ neu interpretiert

Wimmelbilder in 3D und Pieter Brueghel – was soll das nun schon wieder? Das dachte ich, als der Referent am Bayerischen Nationalmuseum mir das Kunstprojekt von Martina Singer zeigen wollte. Was ich dann sah, faszinierte mich und führte zum heutigen Gastbeitrag von Dr. Sybe Wartena, dem Kurator für das Projekt. Was hat die Arbeit wohl mit Wimmelbildern, Martina Singer und der Krippensammlung des Museums zu tun? Viel – lesen!

Eine Steilvorlage für Wimmelbilder in 3D liefert Pieter Brueghel. Hier siehst du, Martina Singers Kunstprojekt „Volkszählung zu Bethlehem“ nach Brueghel. Bayeriscches Nationalmuseum München. Foto: Marina Singer.


Pieter Brueghel in 3D – ein Kunstprojekt von Martina Singer

Das Bayerische Nationalmuseum zeigt noch bis zum April ein fesselndes Kunstprojekt, das man dort gar nicht vermuten würde. Denn es ist erst im November 2016 fertig geworden und das Nationalmuseum stellt doch sonst nur Dinge aus, die man schon über Jahrhunderte als Kunst- oder Luxusobjekte schätzte und die dann für würdig befunden wurden, in den heiligen Hallen an der Prinzregentenstraße einen Platz zu finden. Wir waren auch zuerst etwas skeptisch, als die Münchner Künstlerin Martina Singer im Januar 2015 anrief und fragte, ob wir ihre dreidimensionale Umsetzung eines Gemäldes des flämischen Malers Pieter Brueghel d. Ä. ausstellen wollen. Wir sind dann aber doch in ihr Atelier in der Au gefahren. Was wir dort sahen, begeisterte unssofort hellauf , obwohl die über acht Quadratmeter große Landschaft erst skizzenhaft angelegt war und von den zweihundert Figürchen höchstens ein Viertel existierte.

Kunstprojekt nach Brueghel – Detail Spelunke im hohlen Baum. Foto: Martina Singer.

Pieter Brueghel: Spezialist für Wimmelbilder

Brueghels Gemälde zeigen immer viele Figuren in einer weiten Landschaft. In diesem Fall geht es um die Volkszählung zu Bethlehem, also die Szene, mit der die Weihnachtsgeschichte anfängt: Joseph musste mit seiner Frau Maria in seinen Geburtsort Bethlehem, um sich dort registrieren zu lassen. Und das als 3D-Modell? Ist das nicht lieblich bis kitschig, allenfalls „Naive Kunst“? Das ist es erstaunlicherweise überhaupt nicht!

Der Maler Pieter Brueghel ist bekannt dafür, das  Alltagslebens der einfachen Leute genau zu beobachten und sehr wirklichkeitsnah zu schildern. Er gibt seine eigene Lebensumwelt wieder, also ein flämisches Dorf aus dem Jahre 1566, im Schnee. Alle Figuren in seiner Volkszählung zu Bethlehem sind mit irgendetwas beschäftigt: Sie spielen, unterhalten sich, transportieren Säcke, Fässer und Körbe, werfen mit Schneebällen, schlittern über das Eis und schlachten ein Schwein. Dabei ist die Welt, die der Maler schildert, keineswegs lieblich, sondern oft düster. Er führt dem Betrachter gerne die Torheit der Menschen vor Augen. Und Brueghel mochte anscheinend Rätselbilder: In seinen „Wimmelbildern“ sind immer die wichtigen Dinge versteckt, oder man glaubt das zumindest.

Martina Singer: zwischen Bühnenkunst, Installation und Fotografie

Martina Singers künstlerische Arbeit umfasst ganz unterschiedliche Gebiete – unter anderem die Schauspielerei. Ihr war es besonders wichtig, die Rollen und Beziehungen der Figuren nachzuempfinden. Sie hat sich in jede Figur, die sie aus einer Knetmasse geformt hat, hineinversetzt, ihre Stimmung aufgenommen. Das spiegelt sich in den von ihr geschaffenen Männlein und Weiblein wider.

Was gehört wohl alles zur Schweineschlachtung dazu? Detail aus Kunstprojekt nach Pieter Breughel. Foto: Martina Singer.

Die Figuren in Brueghels Gemälden haben einen hohen Wiedererkennungswert. Viele Museumsbesucher sehen sofort, dass hier Brueghelfiguren vor ihnen stehen. Die Anfangsidee war allerdings eine ganz andere: Martina Singer wollte eigentlich ein Brueghel-Bild nur als Fotomotiv mit Figürchen aus dem Modelleisenbahnbau nachstellen. Aber schon bald verschob sich die Zielrichtung zu einer möglichst getreuen Erschließung des Gemäldes. Trotzdem blieb die Idee bestehen, die dreidimensionale Umsetzung per Foto wieder ins zweidimensionale zurück zu holen. Deshalb hängen neben der gebauten Landschaft zwei formatgleiche Bilder: eine Reproduktion des originalen Gemäldes aus dem Museum für schöne Künste in Brüssel sowie eine Fotografie des 3D-Modells von exakt dem gleichen Betrachterstandpunkt. Diese Perspektive auf das Original kann man übrigens in der Ausstellung auch durch einen fest installierten Guckkasten erleben.

Entdeckerfreude – von Detail zu Detail

Aber auch ohne diese optischen Raffinessen fasziniert das Werk die Besucher: die vielen realistischen Details ziehen sie förmlich in das Bild hinein. Sie können von allen Seiten hautnah (ohne Vitrine) an die Figürchen, Bäume, Gehöfte und Schuppen, Transportwagen, Brennholzlegen usw. herantreten. Das vertieft das unmittelbare Erlebnis von Brueghels Bild ganz erheblich, und so etwas haben  Museumsleute besonders gern. Besucher fangen an zu diskutieren, ob die Künstlerin dieses oder jenes Detail richtig umgesetzt hat, zum Beispiel, ob ein Klotz, der über einem verschneiten Dach aufragt, von Brueghel wirklich als Schornstein gemeint war, oder ob das nicht ein viel weiter in der Ferne stehender Turm sein müsste.

Die Entdeckerfreude führt den Betrachter von Detail zu Detail. Welche Eisvergnügungen gibt es außer Schlittschuhlaufen? Was macht ein altes Mütterchen mit einem Vorrat Schneebälle, mitten in einer Gruppe balgender Jungs? Warum wird an der Registrierungsstelle am Fenster eines gammligen Landgasthofs auch Geld kassiert und werden Hähne in Körben hereingereicht? Was gehört alles zur Schweineschlachtung?

Kunstprojekt nach Pieter Brueghel, Detail: Balgende Kinder. Foto: Martina Singer.

Über all diese Szenen vergisst man glatt das wichtigste: Das Bild sollte doch etwas mit Weihnachten zu tun haben…? Genau das scheint Brueghels Absicht gewesen zu sein. So lässt er Maria und Joseph zwar in der Mitte des Vordergrundes, aber doch recht unauffällig und von den Leuten unbeachtet auftreten. Und genauso wie das Volk im flämischen Bethlehem merkt auch der Betrachter des Bildes kaum, dass sich ein wichtiges Ereignis ankündigt.


Detail zentraler Fasswagen mit Maria und Joseph. Foto: Maria Singer.

Krippen und Brueghel-Projekt – Illusion räumlicher Tiefe

Im Bayerischen Nationalmuseum tritt dieses ungewöhnliche Kunstwerk in einen spannenden Dialog mit der weltberühmten Krippensammlung. Auch für die gilt, dass manche, die sie noch nicht kennen, denken, das wäre nur lieblicher Kitsch, aber da täuscht man sich leicht. Die Krippen der Barockzeit und auch noch die des 19. Jahrhunderts, besonders die italienischen aber auch solche aus Bayern oder Tirol, waren oft Werke von Künstlern und kosteten ein Vermögen. Immer ging es darum, fremde Welten wach zu rufen oder biblische Geschichten packend zu schildern. Das funktioniert auch heute noch.

Neapolitanische Krippe mit Ausblick über den Golf von Neapel auf den Vesuv. Foto Bayerisches Nationalmuseum, Walter Haberland.

Aber nicht nur die Erzählfreude verbindet Martina Singers Brueghel-Projekt mit den Krippen, sondern auch die räumliche Tiefe der Landschaft. Sie wird bei den Krippen auf ganz unterschiedliche Weise erzeugt. Da gibt es Papiertheater mit Kulissenwänden, ganz flache Reliefs mit erstaunlicher Tiefenwirkung aber auch den Blick über den Golf von Neapel auf den Vesuv. Diese Landschaft ist fast unglaubliche zehn Meter tief; ihr unendlich weit scheinender Himmel ist auf eine Kuppel gemalt ist. Dagegen ist die Brueghel-Landschaft mit einer Tiefe von 3,60 m fast handlich – aber ihre Wirkung hat’s in sich!

Autor: Dr. Sybe Wartena
Referent am Bayerischen Nationalmuseum

Informationen zum Bayerischen Nationalmuseum

Bayerisches Nationalmuseum
Prinzregentenstraße 3
80538 München
Telefon +49 (0)89 21 12 40 1
bay.nationalmuseum@bnm.mwn.de

Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag 10 – 17 Uhr
Donnerstag 10 –    20 Uhr
Montag geschlossen

Eintrittspreis für Museum und Ausstellung
Erwachsene 7 Euro
Ermäßigt 6 Euro
Sonntags 1 Euro
Freier Eintritt für Mitglieder und Besucher bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.

Weitere Blogbeiträge zum Bayerischen Nationalmuseum:
  1. Nymphenburger Porzellan: ein Lustgarten en miniature | #Lustwandeln
  2. Christoph Brech: „Überleben“ im Bayerischen Nationalmuseum
  3. Münchner Museumstour für Kinder mit Migrationshintergrund – Bayerisches Nationalmuseum (1)
  4. Ritter, Helden und Raufbolde

Lieber Herr Wartena, ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen für den Blick hinter die Kulissen dieses faszinierenden Kunstprojektes von Martina Singer – ein formidables Wimmelbild in 3D! Für KULTUR – MUSEUM – TALK ist es der zweite Kunstblick aus dem Bayerischen Nationalmuseum – bitte sehr gerne weiter so!

Hast du dir Pieter Brueghel in 3D von Martina Singer schon angesehen? Was beeindruckte dich? Hast du Fragen, die du gerne dem Gastautor stellen möchtest? Dann nur zu – nutze die Kommentarfunktion. Dr. Wartena antwortet dir!

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