KULTUR – MUSEUM – TALK

Darf man das? Geschichte als App – Neue Wege der Vermittlung

Podiumsdiskussion "Geschichte als App"Die Podiumsdiskussion „Geschichte als App – Neue Weg der Vermittlung“ am 20. Juni 2013 in München bot viele Einsichten hinsichtlich der digitalen Vermittlung von Geschichte. Frau Dr. Angelika Baumann vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München wollte von den vier eingeladenen Diskutanten Folgendes erfahren:

„Was sind Vor- und Nachteile von Internetportalen, digitalen Angeboten und virtuellen Ausstellungen im Bereich Geschichte? Kann eine App überhaupt der geeignete Weg sein, um historisch komplexe Themen zu vermitteln und einer breiten Bevölkerung zugänglich machen?“

Zugleich ergaben sich neue Fragestellungen, mit denen Kulturinstitutionen konfrontiert sein werden, wenn sie diesen Vermittlungsweg beschreiten. Dabei verlassen sie zwangsläufig die Komfortzone, da Erfahrungswerte fehlen. Ist das schlimm? Nein. Eine Kulturinstitution darf testen. Oder ist es nicht sogar ihr bildungspolitischer Auftrag, sich auf neue Vermittlungsformen einzulassen? Ausgangspunkt sollten die Bedürfnisse der Nutzer sein. Aber welche sind das? Sind sie bereits vorhanden, müssen sie geschärft oder erst geweckt werden? Dreh- und Angelpunkt ist das anvisierte Zielpublikum. Logisch, oder? Trotzdem keineswegs einfach, wie die Diskussion zeigte.

Anlass der Podiumsdiskussion – die App „GE(H)DENKEN“

Das Kulturreferat hat anstelle einer Ausstellung über den SS-Verein Lebensborn in München ein Buch – Kinder für den „Führer“ – herausgebracht, das von einer App flankiert wird. De facto ersetzt die App die Ausstellung. Sie heißt „GE(H)DENKEN“ und wird am 2. Juli 2013 offiziell vorgestellt. Welche Rolle spielte München für den von Heinrich Himmler 1935 gegründeten Verein Lebensborn? Ziel war „der Aufbau einer „rassischen Elite“ des Dritten Reiches“ durch die Aufzucht von Kindern „guten Blutes“. Die App vergegenwärtigt die Spuren und die Akteure des SS-Vereins in der Stadt. Auf das Wie bin ich sehr gespannt. Das brisante Thema verursachte im Vorfeld der Konzeption, während der Durchführung und jetzt im Nachgang großes Kopfzerbrechen. Die zentrale Frage lautet:

Darf man mit neuen Medien prekäre Themen angehen?

Neue Medien verkürzen, spitzen zu und reduzieren, deshalb will ihr Einsatz wohl überlegt sein. Die Resonanz auf die App ist nicht vorhersehbar. Wird es unerwünschte Reaktionen geben? Wie ist damit umzugehen? Das Thema verlangt sicherlich ein Monitoring der Reaktionen, ggfs. müssen diese moderiert werden. Das ist übrigens der Grund, warum laut Frau Görlitz bei der im letzten Post genannten App Die Textur der Stadt digital erfahren: Orte jüdischen Lebens in Berlin 1933-1945 kein Web2.0-Paket integriert sein wird. Zu groß sind die Bedenken vor eventuell aufkommenden rechtsextremen Äußerungen.

Bei einem brisanten Thema kann eine App nicht sich allein überlassen bleiben. Das betrifft meines Erachtens grundsätzlich jede Museums-App. Was spricht unter den Voraussetzungen dagegen, mit neuen Medien prekäre Themen anzuschneiden? Gar nichts, wenn sie nach dem Erscheinen weiterhin betreut werden. Die App wurde für ein bestimmtes Zielpublikum geplant. Sie richtet sich an den technikaffinen Jugendlichen. Ob die Rechnung aufgeht, wird sich noch erweisen. Inhalt, Marketing und Promotion der App muss auf die Zielgruppe abgestimmt sein. Die Verantwortlichen der App stellten sich dieser Herausforderung. Frau Dr. Baumann formulierte daraus abgeleitet eine Grundsatzfrage:

Welche Konsequenzen hat das Internet für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft?

Das Internet ist Hort der „Akkumulation von Wissen“. Damit geht eine Reduktion des Wissens einher, denn wer, der nach etwas Bestimmtem sucht, geht über die erste, zweite oder dritte Google-Seite hinaus? Bereits Studenten schauen als erstes auf Wikipedia nach. Wer dann von ihnen weiter recherchiert (in Archiven, Bibliotheken, Büchern, Schriften) und somit das akademische Handwerk umsetzt, hat seinem Dozenten gut zugehört. Die Regel ist das laut Herrn Schreiber (Podiumsteilnehmer) aber nicht. Wird das kollektive Gedächtnis jetzt von einigen Wenigen geformt, die die Spielregeln des Internets beherrschen? SEO-optimierte Beiträge, Wikipedianer … Wollen das die Kulturinstitutionen wirklich oder muss nicht genau deshalb dagegen gesteuert werden, damit das kollektive Gedächtnis sich nicht weiter reduziert, einseitig oder interessengeleitet wird?

Pro Geschichte als App – Neue Wege der Vermittlung

Müssen nicht gerade Kulturinstitutionen auf der Klaviatur des modernen Wissenserwerbs spielen? Moderatoren sein, Appetithappen geben und die Menschen dort abholen, wo sie sich befinden, ohne dass sich diese unterlegen fühlen, wie dies bereits in Ausstellungstexten zu berücksichtigen ist (siehe hier). Es geht nicht darum, das Expertenwissen in all seinen Facetten darzubieten. Vielmehr muss der Nutzer emotional berührt werden. Bindet Euer Zielpublikum ein! Das kann tatsächlich so weit gehen wie Helge David es auf der Mai-Tagung 2013 formuliert hat: Der Besucher wird zum Kurator, er stellt sich „seine“ Ausstellungen zusammen, er zieht Bezüge zu seiner Lebenswelt, und die kann oder ist eine andere als die der Kulturinstitution.

Dieser Prozess ist bereits in Gang gesetzt und findet mit oder ohne die Kulturinstitution statt. Die Neuen Medien können hier helfen. Sie können unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, verschiedene Geschichten erzählen, die in einer einzigen großen Geschichte aufgehen. Und ja, geht das Risiko ein, dass der Nutzer innerhalb der Geschichte aussteigt, etwas anderes macht! Das war eines der Bedenken gegen Geschichte bzw. Historie als App. Wichtig ist hier, dass dem Nutzer durch eine intuitive Bedienung die Rückkehr ermöglicht wird, ohne Verwirrungen zu stiften und bei ihm das Gefühl zu erwecken, er habe etwas verpasst, denn dann ist er tatsächlich weg. Die Voraussetzung dazu ist aber, dass bei ihm der Wunsch, die Lust aufrecht erhalten wird, wieder einzusteigen.

Der Zweiklang – Lebensborn in München – App und Buch

Was ist eigentlich die Funktion einer App? Ist sie ein Appetizer für das Museum, die Kulturinstitution, die Geschichte? Denn eines ist klar: Die App soll den Museumsbesuch nicht ersetzen. Die Technik darf keinen Vorrang vor dem Inhalt haben. Wie muss aber nun der Inhalt beschaffen sein, dass die App fasziniert und zur Auseinandersetzung mit dem Museum und hier mit dem Lebensborn anregt? Fragen über Fragen.

Die Landeshauptstadt München hat sich bewusst für eine App anstelle einer Ausstellung entschieden. Ein Buch flankiert die App und bietet vertiefendes Hintergrundwissen. Die Kombination gefällt mir sehr gut, denn wer mehr erfahren möchte, der hat über das Buch die Möglichkeit dazu. Vielleicht weckt die App das Interesse für mehr Wissen über den Lebensborn. Die Strategie ist mutig und spannend. Ich wünsche hier viel Erfolg und bin sehr neugierig auf das Resultat.

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren:

Gregor Horstkemper, Zentrum für elektonisches Publizieren an der Bayerischen Staatsbibliothek, Mitglied der AG Digitale Geschichtswissenschaft
Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München
Martin Schreiber, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes
Moderation: Dr. Angelika Baumann

Ganz herzlich möchte ich mich bei Frau Dr. Baumann für die Einladung zur Podiumsdiskussion und für die sehr freundliche Atmosphäre bedanken. Ein herzliches Dankeschön geht an die Teilnehmer der Veranstaltung. Der offene und ehrliche Austausch ist mehr als nötig, um das Thema „Geschichte als App – Neue Wege der Vermittlung“ sowohl wissenschaftlich aufzubereiten als auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mein Artikel ist nur ein kleiner Ausschnitt der anregenden Diskussion, die weitergehen wird.

Buchtipp

Kinder für den „Führer“. Der Lebensborn in München, Angelika Baumann, Andreas Heusler (Ed.), München 2013.

Update – Link zur App

Hier ist nun der Link zur Web-App „GE(H)DENKEN“, einsehbar auf mobilen Endgeräten: http://www.muenchen.de/gehdenken/ – Vor Ort an den acht Stationen gibt es QR-Codes zum Einscannen der jeweiligen Station.

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