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Frisches Obst: ALTE SORTEN – EDLE SORTEN | #Lustwandeln

Frisches Obst zu essen ist gefährlich – wer sagt das? Warum sollen wir stattdessen lieber Mus kochen? Wieso ist der historische Obstgarten ein wertvolles Klon-Reservoire? Und wie spielt die Slow Food Bewegung da mit ein? Das verrät Dr. Peter Peter in seinem famosen Gastbeitrag – ein #Lustwandeln zur kulturhistorischen Bedeutung von Obst!

Die gemalten Würmer, die Motten auf den barocken Obststilleben belegen es. Früchte sind gefährlich. Der Apfel der Verführung, den die biblische Eva Adam reicht, führt zur Vertreibung aus dem Paradies. Und sie können krank machen. Der Habsburger Kaiser Friedrich III. starb, weil er zu viel Obst mit frischem Wasser verschlungen hatte. Wir wissen heute alle, wenn wir nach Indien reisen: Bloß kein ungewaschenes Obst essen!

Frisches Obst liebte nicht nur der Adel, sondern auch die Insekten, daher nicht ganz so ungefährlich. Jan van Huysum (1682-1749) – Früchte und Blumen, 1710/20, 40 x 32,9 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München (OG Kabinett 7), Inv.Nr. 267 [Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen, München]

Hildegard von Bingen wusste es auch – ihr Rat für die Jahrhunderte: Kocht Apfelmus, kocht Birnenmus, kocht Latwerge und Marmeladen. Erst mit der Entdeckung der Vitamine im 20. Jahrhundert kamen wir Deutsche wirklich auf den Geschmack frischen Obsts.

Trendsetter und „bayerisches Versailles“

Andererseits: Rohes Obst schmeckt. Und die mittelalterliche Vorstellung, dass himmelsnahe Speisen edler und reiner seien, führte dazu, dass adlige Eliten Geflügel und feines Tafelobst zu privilegierten Speisen erkoren. Im Barock setzt die Spitzenküche auf neue Natürlichkeit. Gewürzluxus ist passé. Die Fressorgien riesiger Spießbraten ebenso. Seltenes Obst und Gemüse künden von neuer Finesse.

Trendsetter ist Versailles mit seinem potager du roi (Gemüsegarten des Königs). Der allmächtige Monarch liebt es, auch der Natur seinen Willen aufzuzwingen. Die Stunde der Züchter, Veredler und Gärtner schlägt. Spaliere, seltene Farbnuancen, frühgereifte Früchte werden zu Prestigeobjekten unumschränkter Herrschaft. Der Hof von Ludwig XIV. wird nicht nur architektonisch, politisch und literarisch nachgeahmt, sondern auch pomologisch, sprich beim Garten- und Obstanbau.

So gesehen sind die Obstgärten des Blauen Kurfürsten in Schleißheim ein unverzichtbarer Repräsentations-Bestandteil des „bayerischen Versailles“.

Georg Flegel (1563 – 1638) – Stillleben, um 1600/10, 22 x 28 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München (OG Kabinett 13), Inv. Nr. 5026. [Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen, München]

Frisches Obst aus historischen Obstgärten: wertvolle Klon-Reservoire?

Doch im 21. Jahrhundert sehen wir in diesem Frankreich-Imitat nicht nur historischen Pomp, sondern verbinden aktuelle Hoffnungen damit. Königliche Obstgärten können Samen- und Klon-Reservoire für seltene alte Sorten wie Gravensteiner oder Borsdorfer sein. Für Äpfel mit zarter Haut, die noch duften. Für Wohlgeschmack, der in vegan-bewegten Zeiten immer wichtiger wird. Für eine Gourmet-Gegenwelt zum Standardaroma lagerungsfähigen aber faden Supermarktobstes: Bis auf Boskop sind sämtlich gängige Apfelsorten Neuzüchtungen des 20. Jahrhundert, zumeist für USA-Plantagen entwickelt!

Slow Food und alte Obst- & Gemüsesorten: eine Delikatesse

Bewegungen wie Slow Food haben die alten Sorten zu neuen Objekten der Begierde gemacht. Alain Ducasse, der höchstdekorierte Koch der Welt, serviert Gemüse aus dem Schlossgarten von Versailles. Das Steirereck, Nummer eins in Österreich, reicht kandierte Agrumen aus der Orangerie von Schönbrunn. Luxusbrenner fahnden nach seltenen aromatischen Sorten wie Calville oder Saubirne. Auf Bauernmärkten gibt es wieder lila Kartoffeln, schwarze Tomaten, „orange Beete“.

Festlich und für die höfische Gesellschaft – Frisches Obst eine Delikatesse. Jan Davidsz. de Heem (1606-1683/84) – Stillleben mit Früchten und Silberschale, 1652, 33,6 x 49,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München (OG Kabinett 23). Inv. Nr.: 243. [Foto: Bayer. Staatsgemäldesammlungen, München].

Obst war eine Stärke der deutschen Küche. Der weitgereiste französische Philosoph Michel Montaigne lobte um 1580 gleich dreimal begeistert die bayerischen Äpfel, die er in Lindau am Bodensee vorgesetzt bekam: Als Backapfelsuppe, als gekochte Schnitze zum Siedfleisch und dann als Dessert mit Nüssen.

Durch die Obstgärten von Schleißheim zu lustwandeln, kann uns daran erinnnern, dass Früchte nicht nur health food und Grundlage für Smoothies sind, sondern eine echte Delikatesse sein können.

Autor: Der Münchner Dr. Peter Peter ist Dozent für Gastrosophie an der Universität Salzburg und Restaurantkritiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der promovierte klassische Philologe veröffentlichte prämierte Kulturgeschichten der italienischen, deutschen und österreichischen Küche (alle C. H. Beck) und ist als Kulinaristik-Experte ein gefragter Ansprechpartner der Medien. Er entwirft kulinarische Reisen. Website: http://www.pietropietro.de/

Passend zum Thema sein Buch: Peter Peter, Kulturgeschichte der deutschen Küche, 3. Aufl., 2015.

Vielen Dank Herr Dr. Peter für die kostenfreie Übersendung dieses tollen Buches durch den Verlag. Ich werde gerne darin stöbern und es den Lustwandlern am 8.10.16 in Schleißheim zur Ansicht mitnehmen – die Foodblogger wird’s freuen #Bloggerstoff.

Lieber Herr Peter,
vielen Dank für diesen spontanen Gastbeitrag zur kulturhistorischen Bedeutung von frischem Obst – passt wunderbar zum Tweetwalk #Lustwandeln am 8. Oktober 2016. Bin ich froh, dass Frau Dr. Puhlmann vom Bayerischen Nationalmuseum Sie mir empfahl – von dort wird übrigens auch noch ein sehr spannender Gastbeitrag kommen – eine besondere Kuriosität aus heutiger Sicht. Sie passt perfekt zum frischen Obst!

An alle LeserInnen:
Jeder kann im Netz beim #Lustwandeln mitmischen! Wie? Das verrät die Ankündigung zum Tweetwalk. Wir freuen uns über deine Teilnahme im Netz! Let’s rock Barock!

–>Fotos: Mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung von der Alten Pinakothek. Danke, liebes Pinakotheken-Team, dass Ihr mir subito die Bilder übersandt habt – sie passen grandios zum Artikel!

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