Aschermittwoch in Nizza – Kirche, Künstler, Kabarett

Aschermittwoch in Nizza – ein Highlight der Künste. Es ist mittlerweile auch schon wieder einige Zeit her, aber wenn ich Ihnen erst heute die Nachlese zur legendären jährlichen „Messe des Artistes liefere, dann einfach deswegen, weil sie immer noch nachbebt hier in Nizza. Sie ist ja der spektakuläre Ausklang des hiesigen Second Life der "Messe des artistes". Plakat vor Kircheneingang. Event findet am Aschermittwoch in Nizza statt. Aschermittwoch in Nizza geht auch multimedial: Second Life macht die „Messe des artistes“ im Web miterlebbar. Foto: Alba Rocca.[/caption]

Und keine ihrer Art ist wilder, ausgelassener, und bunter als die in unserer italophilen Stadt am türkisblauen Mittelmeer. Als Ihre pflichtbewusste Lokalkorrespondentin darf ich Ihnen diesen alljährlichen Höhepunkt des sozialen Kalenders natürlich nicht vorenthalten.

Der Schwur des Pariser Malers Willette

Der stolze Vater dieser Tradition ist ein Künstler vom Montmartre. Wir schreiben das Jahr 1914. Adolphe Willette – exzentrischer Pariser Maler und Gründer des weltberühmten Pariser Cabaret Le Chat Noir – ist schwer krank. Er verhandelt er mit dem lieben Gott und bietet an, eine jährliche Dankesmesse zu stiften, wenn er dem Sensenmann diesmal noch entkommt.

Das muss den Herrn wohl amüsiert haben, ist Willette doch ein Atheist. Und so kommt’s, dass der Malade wieder gesundet und dann auch tatsächlich eine solche Messe organisiert, wenn auch mit guten 12 Jahren Verspätung. Sie wird den Künstlerkollegen rund um die Welt gewidmet… und zwar genauer gesagt, denjenigen, welche noch am Leben sind, aber im Laufe dieses Jahres sich auf ewig verabschieden werden. Deswegen wählt er symbolisch auch den Aschermittwoch, passend zum eklesiastischen Motto des Tages, „Staub zu Staub“. Sogar ein eigenes Gebet schreibt er zu diesem Zweck, das seither unter seinem Namen in die Historie eingegangen ist:

Auf schwarzen Hintergrund weiße Schrift mit Prière de Willette. Nizza

Prière de Willette

Die Aufführung dieser Messe wird er allerdings nicht mehr miterleben, denn nur wenige Tage vorher wird er dann doch von dieser Welt abberufen. Schlechtes Timing, oder Gottes Sinn für Humor?

Messe des Artistes: eine Kirche wird zur Galerie

Die Messe aber wird ihm zu Ehren dennoch abgehalten, und ist ab diesem Jahr, 1926, ein fester Bestandteil des französischen Kirchenkalenders. In ihren Anfängen noch eher traditionell katholisch, wird sie nach und nach bunter und exotischer. Maler, Bildhauer, Tänzer und Musiker werden in den Gottesdienst integriert. Im Laufe der Zeit breitet sie sich über das ganze Land aus, und vor rund 30 Jahren erreicht sie auch Nizza.

Und das mediterrane Nizza liebt es nun mal bunt und exuberant. Vor allem, seit Pater Yves-Marie Lequin hier ist. Der Dominikaner ist dezidierter Seelsorger der Künstler, und selbst ein talentierter Maler. Vor allem aber ist er ein hipper Typ, und sehr viel öfter in Khaki und Polohemd unterwegs als im Talar. Und er hat es sich auf die Fahne geschrieben, aus der Messe des Artistes ein alljährliches Happening zu machen, das alles andere landauf, landab in den Schatten stellt. Dazu schnappt er sich kurzerhand Nizzas größte Kirche, St. Pierre d’Arène, mit Platz für (offiziell) 1.200 Menschen und verwandelt diese in eine Galerie, in der zufällig eine Messe stattfindet.

Kirchenraum, der zur Ausstellung umfunktioniert wurde. Kunstwerke und Skultpturen werden gezeigt am Aschermittwoch in Nizza.

Ausstellung der Messe des Artistes © Steve Morphée

Zwischen Striptease und Gottesdienst

Schon der Einzug ist dramatisch: Vertreter verschiedener Gewerbe, in folkloristisches Gewand gekleidet, und ein ganzes Bataillon in napoleonischen Kostümen ebnen dem Heer der Geistlichen, darunter der Erzbischof, den Weg zum Hochaltar. Auch die gesamte Lokalprominenz hat es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein.

Unter dem diesjährigen Thema Exode(s) produzieren sich über 90 bildende Künstler aus allen Disziplinen – Maler, Bildhauer, Fotografen, Ikonografen. Mehr als 200 Werke zieren die Wände, Säulen, Kanzel und Seitenaltäre, und notfalls auch den Beichtstuhl…. wo halt eben gerade noch ein Plätzchen zu finden war. Und auch die Bühnenschaffenden spielen eine wichtige Rolle – sie werden im Laufe der Messe Oper und Cabaret singen, Gitarre und Didgeridoo spielen, und sogar einen thematisch relevanten Striptease vor dem Altar hinlegen (nein, keine Sorge, nicht ALLE Hüllen fallen dabei! Selbst Eva war im Paradies ja noch mit einem Feigenblatt bekleidet… aber dieser hier symbolisiert die Lasten, die von einem Flüchtling abfallen, wenn er endlich in Sicherheit ist).

Auch Hochwürden hat sich in Schale geworfen, sein Messkleid wurde entworfen von keiner Geringeren als Nivèse, einer arrivierten Vertreterin der weltberühmten École de Nice.

Frontalansicht von Dominikaner-Pfarrer Yves-Marie Lequin in bunter Robe bereit zur messe des artistes am Aschermittwoch in Nizzat

Dominikaner-Pfarrer Yves-Marie Lequin. Foto: © Dmediacannes.

Es ist ein Spektakel, das dem alten Willette gut gefallen hätte. Auch die Nizzaer sind begeistert und quetschen sich wie die Sardinen in die Büchse, pardon Kirche. Am Ende gibt es nur noch Stehplätze, und selbst um die balgt man sich noch. 80jährige Damen mit High Heels und Gehstock bewaffnet, davor nehme man sich besser in Acht! Das bunte, intergenerationelle, interkulturelle Völkchen, das sich hier mischt, ist ein repräsentativer Querschnitt des heutigen Nizza. Und da diese Stadt im Grenzeinzugsgebiet von Italien viel gemeinsam hat mit Triest – der adriatischen Grenzstadt zu Slowenien – ist auch noch eine Abordnung Triester Künstler eingeladen. Gelebtes Multikulti, wie seit Jahrtausenden üblich in dieser Stadt. Ein kleiner Einblick gefällig in das Geschehen?

In Gedenken an die Opfer von Nizza

Ja, es ist fröhlich, spektakulär und artistisch-charmant-chaotisch, aber weder würde- noch respektlos. Und zwischendrin nimmt man dann doch einen Moment der Stille, um die Namen der zu verlesen, die im letzten Jahr noch unter uns saßen. Dazu gehört in diesem Jahr leider auch Laurence Rasteu, die Fotografin mit genug Talent für eine große Karriere, die am 14. Juli 2016 dem Nizzaer Terroranschlag zum Opfer fiel. Das ist insbesondere auch deswegen von Relevanz, da St. Pierre d’Arène gerade mal 100 Meter von der Promenade des Anglais, dem tragischen Ort des Geschehens, entfernt ist und unmittelbar nach dem Anschlag seelsorgerische Präsenz zeigte. Auch der seit der letzten Messe verstorbenen internationalen Künstler wird gedacht – eine tragisch lange Liste in diesem Jahr.

Kirschenraum mit Menschen gefüllt bereit für die Messe des Artistes in Nizza

St. Pierre d’Arène, Archiv Yves-Marie Lequin.

Eine besonders schöne Note auch, und passend zum Thema Exodus: die Teilnahme von prominenten Repräsentanten der anderen monotheistischen Religionen. Sie verlesen Texte in Hebräisch und Arabisch, welche zu Frieden und Toleranz ermahnen. Und selbst der Vertreter der atheistischen Philosophen fehlt hier nicht.

Botschaft vom Miteinander via Second Life

Rund um die Welt geht dieser Appel… Und nein, nicht nur metaphorisch, sondern in Wirklichkeit, oder vielmehr in der virtuellen Wirklichkeit. Denn mittels einer Live-Übertragung auf der Online-Plattform Second Life darf die ganze Welt teilhaben am Spektakel in St. Pierre d’Arène. Wie, Sie kennen Second Life nicht? Es handelt sich um eine pixellierte Welt, die Sie sich selber so zurechtzimmern, wie sie Ihnen gefällt. Da gibt es Inseln, Länder, Universen…. und eben auch Kirchen und Galerien, bevölkert von Avatars, die so aussehen wie Sie (oder wie Sie gerne aussehen möchten). Werfen Sie doch einen Blick in diese Videoreportage ohne Worte, nur mit Musik, die das Konzept, die Messe und auch etliche der Exponate zeigt:

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Ein absoluter Virtuose dieser Kunstwelt, im doppelten Sinne, ist Patrick Moya, der hochgelobte avantgardistische Maler und Bildhauer aus Nizza. Er versteht es wie kaum ein anderer, Realität und Scheinwelt nahtlos zu verweben. Er hat also St. Pierre d‘Arène virtuell nachgestaltet, und die Messe wird synchron via Second Life übertragen. Das überwiegende Publikum? Die Christen im Nahen Osten, die in ihren muslimisch geprägten Ländern ja zur religiösen Minderheit zählen und nicht immer frei und unbedarft ihre Religion ausüben dürfen. Urbi et Orbi à la Niçoise.

Nizzas Künstler: Michael Anthony, Paulin Nikolli, Isabelle Servol

Wollen wir nochmal kurz auf ein paar künstlerische Highlights zu sprechen kommen – aber wo soll man da anfangen, bei über 200 Werken? Mit Michel Anthony vielleicht, dem diskreten Superstar unter Nizzas Malern und Bildhauern. Er ist weltweit für seine spektakulären Bronzeskulpturen und Malerei bekannt, die immer im Zeichen des Friedens und der Toleranz stehen. In diesem Jahr krönte seine Werk „Quelle Différence“ den Altar, und auch eines seiner ausdrucksstarken Gemälde namens Trente-trois ist in der Ausstellung vertreten. Warum 33? Eine bedeutsame Zahl in der christlichen Kirche… Jesus‘ Alter zum Zeitpunkt seines Todes, und metaphorisch für das neue Leben, das daraus hervorging:

Gemälde von Michel Anthony, 33.

Michel Anthony, 33, Archiv.

Sein Atelier in Altnizza (20, rue Droite) ist nur wenige Schritte von dem von Paulin Nikolli entfernt. Und der wiederum ist das „Enfant Terrible“ Kontrastprogramm zum eleganten Michel. Seine Arbeiten strotzen nur so von roher Energie und Ausdruckskraft. In diesem Jahr steuert er ein Bild zum Thema „Attentat in Berlin“ bei.

Künstler Paul Nikolli und zwei Gemälde von ihm.

Paulin Nikolli, privat.

Beide sind sogenannte Immigranten – Michel aus Malaysia, und Paulin aus Albanien – was wiederum viel aussagt über Nizza als Schmelztiegel der Kulturen, und auch erneut das Thema „Exode(s)“ repräsentiert. Aber wie gesagt, außer den bildenden Künstlern ist ja auch die thespische Zunft vertreten, auch in diesem Jahr wieder durch die zauberhafte Sängerin und Tänzerin Isabelle Servol. Sie ist auf Pariser Kabarett spezialisiert und dient daher als der alljährliche symbolische Brückenschlag zwischen Nizza und Willette. Und in diesem Jahr auch noch zu Flüchtlingen… ein Dreiwegspagat, den sie meisterhaft schafft.

Isabelle Servol im Seitenprofil auf der Bühne.

Isabelle Servol. Foto © Louis-Paul Fallot

Die Welt durch die Blindenbrille gesehen

An dieser Stelle ist auch eine tiefe Verbeugung an eine junge Artistin angezeigt – Laura Hurt, eine der rührigsten der Stadt. Sie hat das Plakat und einen Videotrailer für die Messe kreiert. Das Besondere daran? Was Sie darauf sehen, ist das, was sie sieht…. denn das markante Schwarz-Weiß zeigt uns die Welt durch ihre sehbehinderten Augen. Fast erblindet – na und? Außer ihrer Fotografie kreiert sie auch taktil erfassbare Skulpturen. Mit denen zeigt sie einerseits, dass eine Behinderung kein Anlass ist, sein Talent nicht auszuleben, und zum anderen möchte sie eine Brücke bauen zwischen Menschen mit und ohne Handicaps. Denn auch hier gibt es bewusste und unbewusste Ausgrenzung, dem Thema Exode(s) nicht unähnlich.

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Ein Pflichttermin:
Aschermittwoch in Nizza & Fête Messe des Artistes

Diese Messe ist Kirche, wie sie sein soll, prall mit Leben gefüllt, die Generationen verbindend, und mit Spaß an der Freud‘. Und natürlich einer Afterparty, direkt im Gotteshaus. Produkte aus der hauseigenen Produktion, von Käse bis Schnaps, werden hier kredenzt. Ja ja, das ist eine rührige Gemeinde hier – traditionell und progressiv zugleich. Und ab dem 14. Juli 2017 gibt es dann übrigens auch ein ex-voto an der Kirchentür zu bestaunen, das derzeit 16 führende Künstler aus der Region gestalten, wiederum zum Thema Exodus.

Wenn Sie das alles mal selbst miterleben wollen, merken Sie sich doch schon mal den nächsten Aschermittwoch als Pflichttermin in Nizza vor. Und sollten Sie es noch in diesem Frühjahr hierher schaffen, die Ausstellung in St. Pierre d’Arène ist noch bis 16. April in situ.

 
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4 Kommentare

  1. Ein so inspirierender Einblick, vielen Dank für diesen Artikel. Ich musste breit schmunzeln über die Kunst im Beichtstuhl – genauso muss das! :) Liebe Grüße, Kea

    • Danke Kea, es freut mich, dass unsere bunte, gelebte Kirche auch anderenorts Interesse findet. Vielleicht eine Anregung für Deutschland? Liebe Grüße aus Nizza!
      Natja

    • Tanja Praske

      Liebe Sophie,

      merci für dein Lob! Ja, ich bin sehr froh, Natja als Gastautorin zu haben. Sie zeigt mir eine andere Welt. Ich schnuppere Sonne, Kunst und Kult in meinem Lieblingsland. Genau deshalb und weil sie so schön kurzweilig, längere historische Zusammenhänge beschreibt und mit der Gegenwart verknüpft, gebe ich ihr sehr gerne Raum für Nizzas Kunstlandschaft.

      Das bereichert, oder? Zudem hatte ich noch nie etwas von der „Messe des artistes“ gehört, wusste auch nicht, dass es ein frankreichweites Phänomen ist, besonders aber in Nizza ausgelebt wird. Kunst & Kirche im Dienste der Menschen, was gibt es Besseres.

      Mich freut auch sehr, dass die genannten Künstler auf Natjas Bericht sehr positiv reagiert haben, einschließlich des Pfarrers – Kunst- und Mentalitätsvermittlung einmal leicht gemacht.

      Herzlich,
      Tanja

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